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15.12.2024 |
Rückenschmerzen
Ursachen, Mythen und Maßnahmen
In Verbindung mit Rückenschmerzen hört man oft: „Meine Haltung ist schuld. Ich muss meinen Rücken stärken, damit ich besser dastehe und meine Rückenschmerzen verschwinden“. Oder: „Mein Physiotherapeut hat gesagt, meine Hüfte steht schief und mein ISG ist blockiert, deswegen habe ich Rückenschmerzen“ oder „Du musst deinen Rücken gerade lassen beim Training, sonst bekommst du Rückenschmerzen oder schießt dir die Bandscheiben raus“. Physiotherapeut Julius Teuber betrachtet diese Meinungen in diesem Artikel differenziert.
WARUM IMMER WIEDER RÜCKENSCHMERZEN?
Etwa 60 bis 80 Prozent der Deutschen leiden im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an Rückenschmerzen. 25 Prozent der Erwachsenen gehen jährlich wegen Rückenschmerzen zum Arzt und 10 Prozent der Deutschen leiden an chronischen Rückenschmerzen. Es heißt häufig, dass Rückenschmerzen nicht lange anhalten und oft nach zwei bis sechs Wochen wieder verschwinden. Das sind erst mal gute Nachrichten. Das Problem ist jedoch, dass dies nicht das vollständige Bild ist. Rückenschmerzen kehren oft zurück, und LBP (Low Back Pain) ist selten ein einmaliges Problem. Die Rückfallquote kann bis zu 69 Prozent betragen.
Um ein Problem zu behandeln, muss man es verstehen. Bei LBP bedeutet das, dass die Schmerzepisoden zwar schnell abklingen können, aber auch dazu neigen wiederzukommen. Aber lassen Sie uns ganz vorne beginnen: Warum scheinen wir Menschen so anfällig für LBP zu sein? Eine weitverbreitete Theorie besagt, dass es durch die Aufrichtung und den Wechsel vom Vierbeiner zum Zweibeiner in der menschlichen Evolution im unteren Rücken zu einer „Schwachstelle“ kam. Es kommt sonst im Tierreich nicht vor, dass die Wirbelsäule die Lotlinie des Körpers zweimal kreuzt. Die Doppel-S-Form soll das Gewicht des Rumpfes direkt über den Füßen positionieren, sodass wir nicht umkippen und beim Gehen eine abfedernde Wirkung erzeugen. Ein weiterer Grund, warum gerade der untere Rücken anfällig ist, ist die direkte Verbindung von der mobilen LWS (vor allem Beugung und Streckung) und dem starren Os sacrum (Kreuzbein). Überall dort, wo große Mobilität auf Rigidität trifft, ist die Anfälligkeit größer.
Heißt das nun, wir sind Opfer unserer eigenen Evolution und können sowieso nichts tun?
Nein, absolut nicht! Auch wenn man häufig nicht genau sagen kann, was die genaue Ursache für Rückenschmerzen ist, gibt es in der Literatur doch viele Hinweise.
SCHMERZEN SIND MULTIFAKTORIELL
Häufig wurden Schmerzen allein durch das postural-strukturell-biomechanische Modell (PSB) erklärt, wobei Haltungsabweichungen und Körperasymmetrien als Hauptfaktoren gelten. Dieses Modell als alleinige Erklärung zu verwenden, ist aber nicht mehr haltbar.
Deswegen wird heutzutage lieber das bio-psycho-soziale Modell zur Erklärung von (Rücken-) Schmerzen verwendet. Dieses Modell bezieht sowohl biologische, psychische als auch soziale Faktoren in die Schmerzentstehung mit ein. Diese drei Bereiche sind eigentlich gar keine drei separaten Bereiche, denn sie sind im menschlichen Organismus unweigerlich miteinander verknüpft!
Nachdem also die akute Phase des Rückenschmerzes vorüber ist, gilt es auch, andere Faktoren zu überprüfen, die LBP beeinflussen, wie zum Beispiel das Management der allgemeinen Gesundheit, Komorbiditäten, Lebensstilfaktoren, mentale Ge sund heit und negative Denkmuster – anstatt sich nur auf die sofortige Schmerzmodulation zu konzentrieren und das war’s.
Nicht jeder Rückenschmerz darf pauschal auf ein nach vorne gekipptes Becken, Asymmetrien oder die eigene Haltung geschoben werden, und das passiert viel zu schnell. Wir sind alle asymmetrisch, in der Natur gibt es keine Symmetrie und auch kleine Beinlängendifferenzen unter 3 Zentimetern sind nichts Außergewöhnliches und müssen nichts mit deinen Problemen zu tun haben!
Damit werden nur negative Glaubenssätze und Ängste geschürt. Ängste spielen eine große Rolle bei der Schmerzentstehung. Das heißt nicht, dass die Statik nie ein Grund ist, aber der Zusammenhang wird viel zu leicht hergestellt.
Oder um es mal in den Worten des berühmten Rückenschmerz-Forschers Alf Nachemson auszudrücken: „Ich habe mich die letzten 50 Jahre mit Rückenschmerzen beschäftigt, und wer sagt, er wüsste, woher die Rückenschmerzen kommen, ist ‚full of shit‘!“.
DEIN MRT-BILD IST NICHT DEIN SCHICKSAL
Häufig wird dann bei Rückenschmerzen ein MRT-Bild gemacht, um mal zu schauen, ob alles strukturell in Ordnung ist. Dabei finden sich dann oft Auffälligkeiten: Vorwölbungen der Bandscheibe, kleine Fissuren, Abnutzungen und degenerative Veränderungen an den Gelenken. Damit ist ja klar, woher die Schmerzen kommen, oder?
Nein, auch hier ist es nicht so einfach. In einer Studie wurden schmerzfreie Probanden ins MRT geschickt und die Wirbelsäule untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass die meisten Menschen Veränderungen an der Wirbelsäule haben, die aber keine Schmerzen auslösen. MRT-Bilder können Zufallsbefunde sein und eher dazu verleiten, in Passivität zu verfallen, aus Angst, man macht noch mehr kaputt. Schmerz ist ein Konstrukt des Gehirns und hängt nur in geringem Maße mit Gewebeschaden zusammen!
DAS KORREKTE SCHMERZMANAGEMENT
Auch mit Schmerzen darfst und musst du dich bewegen. Selbst in modernen Leitlinien werden nicht mehr als ein bis maximal zwei Tage Ruhe empfohlen. Einige Dinge sind hier wichtig zu beachten:
# Finde schmerzfreie Bewegungen. Es gibt immer Bewegungen, die du schmerzfrei ausführen kannst.
# Schieße aber nicht übers Ziel hinaus. Wie merkst du, ob du zu viel gemacht hast? Sinnvoll ist hier die 24-Stunden-Regel. Ein kurzzeitiges Aufflammen nach dem Training ist nicht weiter schlimm, solange du nach 24 Stunden wieder auf deinem Ausgangsschmerzlevel bist. Ist es nach 24 Stunden immer noch deutlich aufgewühlter als zuvor, hast du zu viel gemacht.
# Eine zweite Regel ist die 10er-Regel. Diese gibt dir eine gute Richtung für die Trainingsintensität mit Schmerzen.
Dein aktuelles Schmerzlevel (1–10) und RPE (1–10; Grad der empfundenen Anstrengung) ergänzen sich dabei immer auf 10. Wenn dein aktuelles Schmerzlevel also bei 8 liegt, trainierst du relativ entspannt, mit einer RPE von 2. Liegt dein Schmerzlevel bei 2, kannst du härter arbeiten, circa mit einer RPE von 8 usw.
KINÄSTHETISCHE WAHRNEHMUNG UND KRAFT
Das Risiko für chronische Rückenschmerzen erhöht sich, wenn einer oder mehrere Faktoren vorhanden sind: Eine reduzierte Maximalkraft, eine reduzierte Kraftausdauer, ein muskuläres Ungleichgewicht oder Defizite in der neuromuskulären Kontrolle beziehungsweise der Körperansteuerung und Körperwahrnehmung. Durch eine verschlechterte Körperwahrnehmung kann es zu schlechteren Bewegungsmustern kommen, die möglicherweise die Rückenschmerzen verschlimmern oder das Risiko für erneute Schmerzen erhöhen.
Kurz gesagt: Wer Rückenschmerzen hat, hat oft auch ein schlechtes Gefühl für die eigene Körperhaltung, Bewegung und verminderte Kraft- beziehungsweise Kraftausdauerwerte.
Der Biering-Sorensen-Test misst die Kraftausdauer des Rückenstreckers. In Studien wurde gezeigt, dass Probanden, die weniger als 176 Sekunden im Biering-Sorensen-Test durchhalten, eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, innerhalb eines Jahres LBP zu bekommen. Probanden, die mehr als 198 Sekunden schafften, blieben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit schmerzfrei.
WIRBELSÄULENSTABILISATION
Die lokalen Stabilisatoren der Wirbelsäule bestehen vor allem aus dem Musculus transversus abdominis (TrA), den tiefen Fasern des Musculus multifidus
lumborum und auch einem kleinen Teil des Musculus psoas major. In einer neutralen Position der Wirbelsäule können die Stabilisatoren am besten arbeiten, und so werden die Kräfte, die auf das Gewebe wirken, reduziert und die Muskulatur kann die Wirbelsäule am besten stabilisieren. Der Muskel kann nämlich in einer neutralen Position immer mehr Kraft produzieren als in einer verlängerten oder verkürzten Position.
Um das Bild zu vervollständigen: Auch das Diaphragma, der Beckenboden und der Erector spinae (Rückenstrecker) haben eine wichtige Funktion zur Stabilisierung der Wirbelsäule.
TRAINING, TECHNIK UND HALTUNG
Bei Rückenschmerzen werden in der Physiotherapie gerne die eben genannten tiefen Rumpfmuskeln auftrainiert. Hierzu werden typischerweise Übungen wie der Bird Dog gewählt. Hier sei gesagt: Diese Übungen sind nicht ausreichend intensiv, um einen trainingswirksamen Reiz für die Stabilisatoren der Wirbelsäule zu setzen. In verschiedenen Studien, die diese und ähnliche Übungen, wie die Glute Bridge, den Side Plank oder den Unterarm Plank untersuchten, wurden nur sehr niedrige Muskelaktivierungslevel im EMG nachgewiesen. Die Lösung ist so einfach, dass viele sie gar nicht akzeptieren wollen: Greife auf klassische Kräftigungsübungen zurück und steigere dich hier sukzessiv. Zum Beispiel: Stability Lifts am Kabelzug, Stability Chops, Pallof Press, Deadlifts, Bent-over Rows, Suitcase Carries.
Wichtig ist, dass alle Bewegungen wieder ins Training integriert werden müssen. Auch die, die bewusst oder unbewusst aufgrund der Schmerzen vermieden worden sind.
Wenn also zum Beispiel das Beugen ein Problem darstellt, dann führe langsam und kontinuierlich den Jefferson Curl ins Training mit ein.
Der Rücken ist extrem belastbar und kein fragiles Konstrukt. Meiner Meinung nach führt der zu extreme Fokus auf einen unter allen Umständen neutralen Rücken eher zu falschen Glaubenssätzen und Angst davor, den Rücken zu beugen. Der Rücken will bewegt werden, und zwar in alle ihm zur Verfügung stehenden Richtungen. Aber natürlich gilt auch
hier: Es kommt immer darauf an, wie ich neue Bewegungen in das Training einführe. Natürlich kann es zu Überlastungen kommen, wenn ich ohne eine langsame Steigerung direkt mit voller Intensität in ungewohnte Bewegungen starte.
Nutze das kontrollierte Setting im Krafttraining, um den Rücken bewusst in Beugungen und Rotationen zu bewegen, wie zum Beispiel beim Jefferson Curl oder bei Chops am Kabelzug, damit die Strukturen auch in diesen Bewegungen stärker und effizienter werden. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, sich im Alltag bei ungewohnten „komischen“ Bewegungen zu verletzen.
FAZIT
Rückenschmerzen sind viel zu komplex, als dass sie einfach auf falsche Haltung, falsche Technik im Training oder Asymmetrien geschoben werden können. Die Schmerzentstehung ist ein extrem komplexes Phänomen, in das sehr viele Dinge mit reinspielen, wie Angst, Glaubenssätze, Erfahrungen, Gedanken, Kontext, kulturelle Prägung, deine mentale Verfassung und vieles mehr. Darüber hinaus müssen wir uns auch die alltäglichen Verhaltensweisen, die Ernährung, das Entzündungslevel unseres Körpers oder unsere Organe genau anschauen, weil all das sich auch auf den Rücken auswirken kann!
Im Kontext Training kannst du dafür sorgen, dass du deine Wirbelsäule präventiv in alle Richtungen bewegst und progressiv belastest. So steigerst du nicht nur die Belastbarkeit, sondern verbesserst auch deine Bewegungskontrolle. Die Wirbelsäule ist kein Bambusstab, der immer neutral gehalten werden muss. Sie ist belastbarer, als du denkst! #
Über den Autor:
Julius Teuber
ist Sportwissenschaftler (M.Sc.) und Physiotherapeut. Er hilft Sportlern mit chronischen Rückenproblemen diese nachhaltig zu bekämpfen und schnell wieder zurück in die Bewegung zu kommen. Wenn Sie mehr Input zu den Themen Rücken-Reha und Schmerz bekommen möchten, dann besuchen Sie folgende Website: www.juliusteuber.de
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